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Riede, K. (1987): Es wird weiter geholzt.
Die Zeit 7, 66.
- Leider immer noch aktuell!

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Zoologen schätzen, daß täglich 50 bis 300 Arten aussterben, vorwiegend durch das Abholzen tropischer Regenwälder. Abgesehen vom ideellen Schaden hat der Artenschwund auch konkrete Folgen, etwa für die Gentechnik, der ein "natürliches Labor" abbrennt, bevor sie richtig anwendungsreif ist.
 
 

Es wird weiter geholzt

Von Klaus Riede

In der öffentlichen Diskussion über Gefahren und Chancen der Bio- und Gentechnik wird häufig übersehen, daß das zunehmende Aussterben von Pflanzen und Tieren und die damit einhergehende Vernichtung des genetischen Potentials weitreichende Konsequenzen unter anderem auch für die "Zukunftstechnologie Gentechnik" hat. Neueste Forschungsergebnisse der Zoologie zeigen, daß sich hier eine Katastrophe vor unseren Augen abspielt, die von vielen Wissenschaftlern, Industriellen und Politikern immer noch nicht in ihrem Ausmaß erkannt wurde. Wären diese an unserer langfristigen Zukunftssicherung interessiert, dann müßten sie längst die aktive Vorhut im Artenschutz bilden und auf diesem Feld die Tier- und Umweltschützer übertreffen.

"Jetzt spielt der Mensch ein bißchen Gott", lautet der Tenor vieler Artikel, die über Fluch oder Segen der umstrittenen Technik berichten. Hier sollte zuerst klargestellt werden, daß der Gentechniker bereits in der Natur vorhandene Gene verpflanzt - seine "schöpferische" Leistung liegt lediglich in deren Neukombination. Gene enthalten die "Baupläne" für Enzyme, die ihrerseits die Chemie des Körpers weitgehend bestimmen und eine Art Baumeisterrolle innehaben. Enzyme sind komplexe Moleküle, die aus einer Folge von mindestens 100 Aminosäuren bestehen. Da in lebendigen Organismen 20 verschiedene Aminosäuren vorkommen, ergibt sich die astronomische Zahl von mindestens 20100 möglichen Kombinationen. Die biologische Evolution hat es geschafft, aus diesem Universum von Möglichkeiten ein Ensemble wirksamer Enzyme zu schaffen. Bis jetzt ist es nicht gelungen, auch nur ein einziges Enzym für eine bestimmte Aufgabe neu zu "konstruieren" - der Gentechniker ist auf die in der Natur vorhandenen Gene angewiesen. Es ist daher unangebracht, ihn als Schöpfer zu bezeichnen.

Angesichts dieser Tatsache müßte der tägliche Verlust genetischen Materials vor allem diejenigen zutiefst beunruhigen, die der Gentechnik eine große Zukunft wünschen: das Ausgangsmaterial für die neue Technik schwindet täglich, noch ehe sie den Kinderschuhen entwachsen ist. Hierzu einige Zahlen. Neueste Untersuchungen amerikanischer Zoologen ergaben, daß die Annzahl der Arten viel höher ist, als bisher angenommen: Hochrechnungen von Terry L. Erwin , der im Kronendach des Amazonasurwaldes systematisch auch die kleinsten Insekten erfaßte, ergaben die beachtliche Zahl von 30 Millionen Arten. Weniger optimistische Schätzungen gehen von fünf Millionen aus, eine Zahl, die heute von der Mehrheit der Biologen akzeptiert wird. Hiervon sind nur 1,7 Millionen Arten wissenschaftlich beschrieben, ihre Lebensweise ist größtenteils unbekannt.

Tropischer Regenwald beherbergt mehr als die Hälfte dieser Organismen, obwohl er nur sieben Prozent der Erdoberfläche bedeckt. Doch gerade dieser artenreiche Lebensraum wird heute mit einer Geschwindigkeit von 5,9 Millionen Hektar pro Jahr zerstört. Dies entspricht genau der Summe der Flächen von Nordrhein-Westfalen, Hessen, dem Saarland, von Hamburg und Bremen. Nach eher optimistische Schätzungen - genaue Zahlen sind schwer zu erheben - wird der Regenwald spätestens in 150 Jahren vollständig verschwunden sein. Angesichts dieser Bedrohung haben jetzt 10 renommierte nordamerikanische Zoologen und Ökologen einen "Club of Earth" gegründet, zu dem auch Edward O. Wilson von der Harvard University gehört. In einem jüngst erschienenen Artikel vergleicht er den Zoologen angesichts des Artenschwundes mit einem Wissenschaftler, der hilflos zusieht, wie sein Labor niederbrennt. Die Wirklichkeit ist allerdings noch schlimmer: Labors kann man wieder aufbauen, Experiment wiederholen. Eine ausgestorbene Art ist jedoch unwiederbringlich verloren. Jede einzelne enthält eine ungeheure Menge genetischer Information - die Anzahl der Gene reicht von tausend in Bakterien über zehntausend in Pilzen bis zu 400 000 in vielen Blütenpflanzen und Tieren. Würde man den Informationsgehalt des Erbmaterials, des Genoms einer Hausmaus in Buchstaben übertragen, benötigte man alle 15 Ausgaben des wohl berühmtesten Lexikons, der Encyclopaedia britannica, seit ihrem Erscheinen im Jahr 1786! Die Ausrottung einer Art kommt daher einer Vernichtung sämtlicher Ausgaben und Exemplare eines Buches oder eines einmaligen Kunstwerks gleich.

Wilson berechnete, daß bei der derzeitigen Geschwindigkeit der Regenwaldzerstörung jährlich siebzehntausendfünfhundert Arten aussterben! Der Berechnung liegt die eher konservative Annahme von fünf Millionen Arten zugrunde. Sollte Erwin mit 30 Millionen Arten recht haben, steigt die Anzahl verschwindender Arten um das Sechsfache. Diese erschreckende Zahl kommt unter anderem dadurch zustande, daß bestimmte Arten nur in winzigen Arealen leben, wie zum Beispiel die Goldkröte aus Costa Rica, die dort in einem Gebiet von nur fünfzig mal hundert Metern vorkommt! Eine Vernichtung dieses Waldstücks bedeutete auch das Verschwinden dieser Art. Obige Zahlen verdeutlichen, daß eine Konservierung der täglich verschwindenden Vielfalt in Genbanken in absehbarer Zukunft völlig ausgeschlossen ist.

Der Verlust hat neben der ideellen Bedeutung auch Folgen für die Menschheit. Dies sei im Folgenden belegt. Bereits im 18. Jahrhundert war die Wildform der heutigen Hausrind-Rassen, der Auerochse (Bos primigenius) ausgerottet. Obwohl Erbgut dieser Ursprungsart in den heutigen Rindern fortbesteht, gelang es trotz planmäßiger Rückkreuzungsexperimente nicht, die Urform wieder herauszuzüchten: Die Tiere erreichen nicht die Größe ihrer Vorfahren. Damit wird deutlich, daß hier genetisches Material bereits unwiederbringlich verloren ging. Ein ähnliches Schicksal droht dem riesigen Kouprey (Bos sauveli), der erst 1937 in Südostasien entdeckt wurde. Wahrscheinlich leben nur noch 100 bis 200 Exemplare. Die Art ist resistent gegen die Rinderpest, ein Merkmal, das in andere Rinderrassen eingekreuzt werden könnte. Mit dem Aussterben des Kouprey würde somit genetisches Material zur Verbesserung eines der wichtigsten Haustiere der Menschheit für immer verschwinden. Doch selbst innerhalb Europas werden Hausrind-Rassen mit ganz spezifischen Eigenschaften durch wenige Standardrassen verdrängt und sterben aus. Sie könnten für viele Regionen der "dritten" Welt sehr wichtig sein, denn dort kommt es oft nicht auf maximale Fleisch- oder Milchleistung, sondern auch auf andere Faktoren wie Robustheit oder Ausnützung bestimmter nährstoffarmer Futterpflanzen an.

Während die Bedeutung der Erhaltung von Rinderarten unmittelbar einleuchtet, mögen sich Utilitaristen fragen, "wozu" man denn so viele Insektenarten "braucht".

Viele Insekten verfügen über eine Besonderheit, die Bio- und Gentechniker besonders interessieren muß: sie besitzen eigene Bakterien- und Einzellerstämme - oft sogar mehrere gleichzeitig -, um ein einseitiges Nährstoffangebot wie Holz, Blut etc. zu nutzen. Diese sogenannten Endosymbionten sind in jahrmillionenlanger Coevolution von den Insekten für ganz spezielle Aufgaben "gezüchtet" worden. In eigens dafür vorgesehenen Organen verfügt jede Insektenart über eigene Endosymbiontenarten, die sonst nirgendwo in der Natur vorkommen. Damit multipliziert sich noch einmal die Zahl der für den Gentechniker interessanten Organismen. Entsprechend hoch ist der Verlust: eine ausgestorbene, holzverdauende Termitenart des verschwundenen mexikanischen Regenwaldes enthielt vielleicht einen Mikroorganismus, der ein wichtiges zelluloseverarbeitendes Enzym produzierte! Aber da weder die Termitenart noch ihre Endosymbionten der Wissenschaft bekannt waren, wird niemand ihren Verlust bedauern.

Die Erforschung der Endosymbionten begann übrigens in Deutschland mit Paul Buchner. Seit etwa zwanzig Jahren liegt dieser Forschungszweig wieder brach; er sollte unbedingt wieder aufgegriffen werden.

Insekten können außerdem aufgrund ihrer Häufigkeit in vielen nicht anders nutzbaren Gebieten der Erde ein wertvoller Proteinlieferant werden - eine Quelle, die von vielen Naturvölkern genutzt wird.

Etliche der von Gentechnikern versprochenen Wunderpflanzen ur Lösung der Welternährungsprobleme existieren bereits - oder besser gesagt, noch! Noel Vietmeyer vom Nationalen Forschungsrat (National Research Council) in Washington hat darauf hingewiesen (Science, Bd. 232/86, S. 1379), daß von den 3000 der Menschheit bekannten Nutzpflanzen nur zwanzig Arten in großem Maßstab angebaut werden. Je schmaler jedoch das Sortenspektrum, desto größer die Gefahr katastrophaler Auswirkungen von Schädlingen, Pfalzenkrankheiten und Mißernten. Paradoxerweise sind diese zwanzig Nutzpflanzen durchaus nicht die nach wissenschaftlichen Kriterien "besten" Pflanzen: kulturelle Gewohnheiten und Marktmechanismen spielen eine viel entscheidendere Rolle, ob eine Pflanze in großem Maßstab angebaut wird, oder nicht. So enthält die südamerikanische Quinoa-Pflanze (Chenopodium quinoa) die für den Menschen lebensnotwendigen Aminosäuren Lysin und Methionin, die in anderen Pflanzen nur spärlich enthalten sind. Der Versuch würde sich lohnen, die Quinoa-Pflanze auch in anderen tropischen und subtropischen Ländern einzuführen und damit den chronischen Aminosäuremangel unterernährter Bevölkerungsgruppen zu bekämpfen.

Leider gibt es hierzu keine planmäßigen Expermente [sic!]; die Einführung neuer Nutzpflanzen vollzieht sich oft nur durch die Initiative einzelner. Mögliche Nutzpflanzen werden nicht nur nicht genutzt, sie sind teilweise vom Aussterben bedroht. Eine der gegenwärtig gefährdetsten Pflanzenarten ist ein Busch, der mit seinen nahrhaften Nüssen wesentlich zu Ernährung der Bewohner der Trockengebiete der Erde beitragen könnte: der Ye-eb Strauch (Cordeauxia edulis) aus der Halbwüste um Kap Horn. Die Art bedarf dringend des Schutzes. Während der letzten Trockenheit wurden die natürlichen Vorkommen fast gänzlich durch Nomaden und ihr Vieh vernichtet.

Viele Wildpflanzen sind resistent gegen Insekten und/oder Krankheiten. Durch gentechnischen Einbau dieser Resistenzgene in Nutzpflanzen würde sich der Einsatz von Pestiziden oft erübrigen. Es ließe sich noch mit einer Fülle weiterer Beispiele verdeutlichen, wie sehr der Menschheit an einer Erhaltung ihrer natürlichen Umgebung gelegen sein müßte. Gerade die Erkenntnisse der Gentechnik ermöglichen uns, die Einmaligkeit und Komplexität organismischer Vielfalt in neuem Licht zu sehen. Unsere Vorfahren handelten bei der Ausrottung von Arten häufig in Unkenntnis - für uns gilt diese Entschuldigung nicht. Damit trifft uns die volle Verantwortung für die täglich stattfindende Vernichtung einmaliger Lebensformen.

Dr. Klaus Riede vom Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen kennt die Regnwälder Ecuadors aus jahrelanger Forschungstätigkeit.

Geegenwärtige Adresse: siehe Homepage von Klaus Riede (/data/zoology/riede/riedehome.html)

Aktualisierung: 2.2.2002 (Web-version)